TRADITIONELLE CHINESISCHE MEDIZIN (TCM)
Geschichte und Praxis
Die Anfänge der chinesischen Medizin liegen schon in der Altsteinzeit. Wenn auch der Beginn der chinesischen Medizingeschichte noch wesentlich durch schamanistische Vorstellungen und Praktiken bestimmt war, so wurden in der Folge zunehmend empirische, medizinisch-biologische Erfahrungen und Ansätze integriert: Pulsbefundung, Zungendiagnostik, die Lehren von Yin und Yang, von den Fünf Elementen, von den Körpersubstanzen und den Organen wurden in die bestehenden daoistischen und konfuzianischen Medizinmodelle aufgenommen.
Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), so wie sie heute als Gesamtheit zahlreicher diagnostischer, therapeutischer und philosophischer Konzepte verstanden wird, begann dann frühestens in der Xia-Dynastie (2205 - 1766 v. Chr.), spätestens aber in der Shang-Dynastie (1766 - 1122 v. Chr.). Basis des traditionellen Medizinverständnisses war - und ist bis heute - die Vorstellung vom Eingebundensein des Menschen in seine natürliche Umgebung sowie die Verbindung von Naturbeobachtungen mit kosmologischen und geomantischen Vorstellungen.
Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen zur chinesischen Heilkunst stammen aus dem 14. bis 13. Jahrhundert vor Christi Geburt, enthalten aber noch keine medizinischen Zusammenhänge und Einsichten. Die für die gesamte Medizintradition des Ostens grundlegende Lehre von Yin und Yang wurde erstmals etwa 700 v. Chr. im „Buch der Wandlungen" (Yi Jing) beschrieben, und das älteste medizinische Fachwerk, das „Buch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin" (Huang Di Nei Jing), entstand wahrscheinlich zwischen 475 und 221 v. Chr. (Zeit der Streitenden Reiche). Im Zwiegespräch zwischen dem legendären Gelben Kaiser (Huang Di) und dem (göttlichen) Arzt Qi Bo werden hier erstmals die wesentlichen und basalen Vorstellungen der Traditionellen Chinesischen Medizin dargelegt, die auch heute noch in der traditionellen fernöstlichen Medizin Gültigkeit haben.
In den folgenden Jahrhunderten wurde das bisher vorhandene Wissen systematisiert und ergänzt. So kommentiert und ergänzt der „Klassiker der Schwierigkeiten", der Bian Que (etwa 500 vor Christi) zugeschrieben wird, schwer verständliche Passagen des Huang Di Nei Jing. Hua Tuo (141 - 212) setzte erstmals Akupunktur und Kräuter zur Anästhesie bei chirurgischen Eingriffen ein, und Zhang Zhong Jing (150 - 219) gilt mit seinem noch heute gültigen Buch „Über kälteinduzierte Krankheiten" (Shang Han Lun) als Begründer der Differentialdiagnostik in der TCM.
Aus dem 3. Jahrhundert stammen die „Vorschriften zur Soforthilfe in Notfällen", ein grundlegendes Werk über Moxibustion und Notfallsmedizin, und das „Buch der Pulse", das die Möglichkeiten der Pulsdiagnostik ausführlich beschreibt. Als „Vater des Pulses" jedoch gilt Bin Hu, der im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt lebte und schon damals Diagnosen mit Hilfe der Pulsdiagnostik erstellte.
Das erste sicher datierbare klassische Werk, das sich ausschließlich mit Akupunktur und Moxibustion (Zhen Jiu) beschäftigt, der „Klassiker der Akupunktur und Moxibustion", stammt ebenfalls aus dem 3. Jahrhundert nach Christi und fasst das damalige Wissen über Akupunktur und Moxibustion systematisch zusammen.
Sun Si Miao, ein berühmter Arzt der beginnenden Tang-Zeit (618 - 907), der in seinen Schriften Grundsatzfragen der damaligen Heilkunde behandelt, erwähnt erstmals die Ashi-Punkte, jene akut schmerzhaften Körperstellen, die in die Akupunkturbehandlung einbezogen werden können.
In der Zeit der Tang-Dynastie (618 - 907) wurden Akupunktur, Moxibustion und Pharmakologie erstmals zu eigenständigen Disziplinen, und die Medizin erhielt gewissermaßen offiziellen Wissenschaftsstatus. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts wurde auf kaiserlichen Erlass die erste Schule für ärztliche Ausbildung eröffnet, deren Ausbildung allgemeine Heilkunde (hierunter wurde damals Chirurgie, Kinderheilkunde, Moxibustion, Augenheilkunde, Nasen- und Ohrenheilkunde und Zahnbehandlung verstanden), Akupunktur, Heilmassage und „Zaubersprüche" (die vor allem aus der buddhistischen Praxis stammten) umfasste. Mit der Einführung staatlicher Prüfungen im Jahre 1188 gab es dann „offiziell geprüfte Ärzte" (Ru Yi), „gewöhnliche medizinische Praktiker" (Yong Yi) und „Wanderärzte" (Chuan Yi), wobei die staatlich geprüften Ärzte in der sozialen Wertungsskala höher eingestuft waren. Diese soziale Ausdifferenzierung des Ärztestandes blieb bis zum Ende der letzten Kaiserdynastie im Jahre 1911 bestehen.
1341 erschien die „Darstellung der 14 Hauptmeridiane" und etwa zweihundert Jahre später die „Untersuchungen über die acht Sondermeridiane, beides Lehrbücher, deren Aussagen bis heute Gültigkeit besitzen.
In der Zeit der Jin- (1115 - 1234) und Yuan-Dynastie (1274 – 1368) gab es vier berühmte Schulen, die einen jeweils etwas anderen Therapieschwerpunkt setzten und deren Traditionen ihren Niederschlag bis in die Neuzeit fanden, nämlich die Schulen von Li Dong Yuan („Schule der Mitte" oder „Erde-nährende Schule"), Zhu Dan Xi („Yin-nährende Schule"), Zhang Zi He („Entschlackungsschule") und Liu Wan Su („Kälte- und Kühle-Schule").
1530 erschienen die „Fragen und Antworten zu Akupunktur und Moxibustion", und mit der Veröffentlichung des „Handbuchs der Akupunktur und Moxibustion" sowie 1817 mit der systematischen Auflistung der 361 Akupunkturpunkte auf den 14 Meridianen erlebte die Akupunktur nochmals einen Höhepunkt. Durch den Verlust der Tradition jedoch sank sie in der Qing-Dynastie (1644 – 1840) in der öffentlichen Achtung so weit ab, dass 1822 die Abteilung für Akupunktur und Moxibustion an der Kaiserlich-Medizinischen Hochschule in Peking geschlossen wurde, da sie vom Kaiserhof als nicht mehr angemessene Therapieform für den Kaiser erachtet wurde. Damit begann der Niedergang der Traditionellen Chinesischen Medizin, die ihren Höhepunkt vor allem in der Zeit der Ming-Dynastie (1368 – 1644) erlebt hatte.
Als letzte wichtige Werke erschienen der „Goldene Spiegel der Medizin", ein Kompendium der traditionellen Heilkunde mit Schwerpunkt auf der Kräuterheilkunde, und 1642 - als Ergänzung des differentialdiagnostischen Werks „Über kälteinduzierte Krankheiten" von Zhang Zhong Jing - die Abhandlung über die „Verbreitung von Fieberkrankheiten".
Chirurgie (Wai Ke) nimmt innerhalb der chinesischen Medizin nur eine Randstellung ein, ihre Entwicklungsansätze wurden nie konsequent weiterverfolgt und chirurgische Eingriffe nur selten erwähnt. Hua Tuo (141 - 212) war der erste chinesische Arzt, der auch Operationen unter Einsatz von medikamentösen Betäubungsmitteln durchgeführt hat. Als Chirurg bekannt geworden ist auch Chen Shi Gong (1555 - 1636), dessen „Standardlehrbuch zur Chirurgie" auch einen ethischen Kodex für Ärzte, die „Fünf Verbote" enthält:
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Niemals zu spät kommen, wenn man zu einem Patienten gerufen wird, sei er arm oder reich, und die notwendige Medizin oder Behandlung mit oder ohne Bezahlung verabreichen.
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Eine Frau, ein Mädchen oder eine Nonne niemals ohne Anwesenheit einer dritten Person untersuchen und die Schweigepflicht beachten.
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Niemals die wertvollen Bestandteile einer Medizin durch minderwertige ersetzen.
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Niemals die Praxis während der Ordinationszeiten zu Zwecken der Freizeit oder des Vergnügens verlassen, den Patienten persönliche versorgen und Rezepturen sorgfältig und deutlich lesbar ausstellen.
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Niemals auf unsittliche Gedanken kommen, wenn der Patient eine Prostituierte oder die Geliebte eines Mannes ist; auch diese Personen wie achtbare Leute behandeln, nach der Behandlung das Haus des Patienten sofort verlassen und nur auf Herbeiruf wieder betreten.
Als Basis der Kräutertherapie (Zhong Cao Yao) gilt der „Klassiker des Shen Nong zur Kräuterkunde", der Shen Nong, dem Bruder des Gelben Kaisers zugeschrieben, von der Forschung jedoch in die Zeit zwischen dem zweiten Jahrhundert vor und dem zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt datiert wird. In diesem frühen Werk zur Kräutertherapie, auf das sich spätere Autoren immer wieder beziehen, finden sich die Namen und die Anwendungsmöglichkeiten der damals bekannten „Heilkräuter", die durchaus auch tierischer Herkunft sein können. Anfangs war die Pharmakologie vor allem noch im Bereich der magisch-religiösen Medizin angesiedelt, und in ihrer sozialen Stellung blieb die Kräutertherapie auch bis in die Neuzeit hinter der von Akupunktur und Moxibustion zurück, weil sie vor allem von den Wanderärzten praktiziert wurde.
Über viele Generationen von Ärzten wurde das Wissen der Kräutertherapie weitergegeben, überprüft und neu bewertet, indem veraltete, dem Abglauben verhaftete, unbrauchbare oder geradezu schädliche Rezepturen weggelassen wurden. Im Jahre 1578 beispielsweise erschien das „Handbuch zur chinesischen Materia Medica", in dem die bislang bekannten 1872 Kräuter und über 10 000 Rezepturen neu systematisiert und zusammengefasst wurden.
Die Traditionelle Chinesische Medizin in China heute
Die traditionelle Medizin in Japan
Die traditionelle fernöstliche Medizin in Europa
Lebenspflege (Yangsheng) und Tuina
Die Anfänge der Lebenspflege im Verständnis der traditionellen fernöstlichen Medizin lassen sich einerseits auf Bodhidharma zurückführen, der etwa um 530 v. Chr. ein System von Übungen zur Erhaltung der Gesundheit und zur geistigen Schulung eingeführt haben soll. Dieses Übungssystem, Dao Yin (Leiten des Qi; japanisch Do-in) genannt, umfasste neben körperlichen und Atemübungen auch die Selbstbehandlung durch Massage und die Anregung spezifischer Akupunkturpunkte.
Entsprechend dem Leitsatz von Hua Tuo, dass der kluge Arzt nicht heilt, sondern dass er Erkrankungen vorbeugt, wurde Dao Yin, der klassische Vorläufer des heute bekannten Qi Gong, bald zu einem integralen Bestandteil der Traditionellen Chinesischen Medizin und verbreitete sich im Laufe der Zeit zusammen mit den anderen traditionellen Heilkünsten (Akupunktur, Moxibustion, Kräutertherapie, Schröpfen und Ernährungslehre) über weite Teile Asiens.
Zum anderen entwickelte sich schon sehr früh die von den chinesischen Ärzten ausgeführte Massage (Tui Na oder auch An Mo), die erstmals im Huang Di Nei Jing Erwähnung findet. Etwa zur gleichen Zeit wie das „Buch des Gelben Kaisers" (zwischen 475 und 221 v. Chr.) entstand auch das erste Lehrbuch der Heilmassage, der „Klassiker der zehn Kapitel über Massage und Atemübungen".
Tui Na basiert auf denselben theoretischen Grundlagen wie Akupunktur und Kräuterheilkunde und besonders wesentlich ist die Erfahrung, dass die inneren Funktionen des Körpers über zuordenbare Bahnen und Kanäle mit der Körperoberfläche in Verbindung stehen. Im Wissen um diese Zusammenhänge können durch die Behandlung bestimmter Punkte und Zonen auf der Körperoberfläche innere Funktionen beeinflusst und Organe ins Gleichgewicht gebracht werden. Akupressur (Zhi Zhen Liao Fa) als Teilbereich von Tui Na, wobei Finger statt Nadeln zur Beeinflussung von Akupunkturpunkten eingesetzt werden, wird ebenfalls in den „Vorschriften zur Soforthilfe in Notfällen" (3. Jahrhundert nach Christi) erwähnt, wo von der Behandlung eines bewusstlosen Patienten durch Fingerdruck auf GV26 (Ren Zhong) berichtet wird.
Schon sehr früh, in der Zeit der Wei- und Jin-Dynastie (220 – 420) gab es bereits spezialisierte Tui-Na-Kliniken in China, und seit der Gründung der kaiserlichen medizinischen Akademie zu Beginn des 7. Jahrhunderts war Tui Na eine der gelehrten Heilmethoden, mit der insbesondere Kinder behandelt wurden. Während der Ming-Zeit (1368 – 1644) entwickelte sich die Heilmassage für Kinder (Xiao Er Tui Na) dann zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der chinesischen Medizin, da die chinesischen Ärzte schon sehr früh erkannt hatten, dass sich Kinder physiologisch, anatomisch und energetisch von Erwachsenen unterscheiden. Akupunkturpunkte und Meridiane haben bei Kindern nicht im gleichen Ausmaß Gültigkeit. Daraus entwickelte sich ein spezielles Repertoire von Punkten und Behandlungstechniken für Kinder, das sich von Akupunktur und Massagemethoden für Erwachsene unterscheidet. Tui Na kommt auch heute noch in der traditionellen chinesischen Medizin ein hoher Stellenwert zu. Angewendet wird sie vor allem bei sensiblen und nadelempfindlichen Patienten sowie bei Kindern. Auch bei anderen Beschwerden und Dysfunktionen, die auf Akupunktur und Moxibustion ansprechen, kann und wird sie mit Erfolg eingesetzt.
Tuina und Shiatsu
In Japan, das die Lehren der chinesischen Medizin übernahm, hat sich aus Tui Na die „Japanische Massage" (Anma) entwickelt. In der Edo-Zeit (vor etwa 300 Jahren) mussten die japanischen Ärzte Anma studieren und sich mit der Struktur des menschlichen Körpers sowie seinen Energiebahnen und Druckpunkten vertraut machen, um so die Grundprinzipien der östlichen Medizin zu verstehen wie auch die notwendigen praktischen Fähigkeiten zu entwickeln. Angewendet wurde dann, je nach spezifischem Fall, die jeweils adäquat erscheinende Behandlungsmethode, also Kräutertherapie, Akupunktur, Moxibustion oder manuelle Behandlung.
Später verlor sich die therapeutische Anwendung und die Bedeutung von Anma. Massage wurde bald nur noch angewendet, um Muskelverspannungen zu lösen und schließlich überhaupt nur noch, um angenehme und lustvolle Gefühle hervorzurufen, was dazu führte, dass Anma nicht mehr als medizinische Therapieform betrachtet wurde.
Diejenigen Anma-Therapeuten, die weiterhin auf der Grundlage der traditionellen fernöstlichen Medizin arbeiteten und zudem auch Erkenntnisse der westlichen Medizin in ihre Arbeit integrierten, gaben ihrer Arbeit in der Folge den Namen Shiatsu, wörtlich „Fingerdruck", um den restriktiven gesetzlichen Bestimmungen zu entgehen, denen Anma mittlerweile unterworfen war. Im Jahre 1955 wurde Shiatsu dann als legitime Therapiemethode erstmals (wenn auch noch als Teilgebiet von Anma), 1964 dann als von Anma und anderen Massage-Techniken deutlich getrennte und unabhängige Behandlungsmethode anerkannt:
Akupunktur
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